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Galizien
Gebiet im Nordosten der Donaumonarchie, das im Zuge der Teilungen Polens (ab 1772) unter habsburgische Herrschaft kam (bis 1918), am Nordabhang der Karpaten gelegen; Hauptstadt: Lemberg.

(I) Im Norden bis zum Lubliner Hügelland, im Westen bis Teschen, im Osten bis zum Sbrucz östlich von Tarnopol (Ternopil/UA) reichend, schloss es unterschiedliche Landschafts- und Vegetationszonen in sich, von dichten Wäldern in den Bergen bis zu weiten fruchtbaren Ebenen. 1910 umfasste es ca. 78.500 km2 und zählte etwa 8 Mio. Einwohner. Davon bekannten sich nach offiziellen Angaben etwas mehr als 4,6 Mio. (= 58,5 %) zur polnischen, 3,2 Mio. (= 40,2 %) zur ruthenischen (= ukrainischen) Umgangssprache. In konfessioneller Hinsicht gab es 3,7 Mio. Römisch-Katholische (hauptsächlich Polen), 3,4 Mio. Griechisch-Katholische (Ruthenen) und 0,9 Mio. Juden. Es wäre verfehlt, aus den Sprachverhältnissen eins zu eins auf die nationalen Verhältnisse rückschließen zu wollen, da einerseits die jiddische Sprache bei der Sprachenerhebung nicht berücksichtigt wurde, andererseits das Ausmaß der – freiwilligen oder auch erzwungenen – sprachlichen Assimilation bzw. Akkulturation an das Polentum nicht genau abschätzbar ist. Auch Sondergruppen wie etwa die Huzulen, die in Teilen der Waldkarpaten leben, wurden statistisch nicht berücksichtigt. Wie in den meisten habsburgischen Ländern lässt sich auch keine exakte Sprach- bzw. nationale Siedlungsgrenze ziehen: zwar lebten die Polen mehrheitlich im Westen des Landes, die Ruthenen in Ost-G. (östlich des Flusses San), doch gab es besonders im Osten eine sozial bedingte Durchdringung von Ruthenen (Bauern) und Polen (Gutsherren, Beamten). Die Juden, die landesweit etwa 11 % der Bevölkerung ausmachten, lebten in erster Linie in den Städten und Städtchen, wo sie nicht selten die absolute Mehrheit, in Einzelfällen bis zu 70 %, der Bevölkerung stellten. Auf dem Land traten sie entweder als Wanderhändler oder als Pächter bzw. Verwalter bei den polnischen Großgrundbesitzern in Erscheinung. Welche Bedeutung dem galizischen Judentum rein quantitativ zukam, lässt sich daran ermessen, dass es rund zwei Drittel des Judentums der gesamten Habsburgermonarchie ausmachte. Nicht außer Acht gelassen werden darf auch die Wanderungsbewegung der galizischen Juden, die sie (meist in mehreren Etappen) sowohl in die großen Zentren der Monarchie als auch nach Übersee führte.

Erst seit 1772 eine politische Einheit bildend, hatten der Westen (Kleinpolen) und der Osten (Rotreußen) des späteren G. bis 1387 eine vollkommen getrennte politische Entwicklung genommen. Im Zuge der Etablierung von Teilfürstentümern der Piasten, der ersten polnischen Dynastie, wählte Fürst Władysław II. 1138 die Stadt Krakau in Kleinpolen als seine Residenz, was sie auch nach der Stärkung der königlichen Macht blieb. Bis 1596 war Krakau die Hauptstadt des Königreiches Polen (bzw. der Polnisch-Litauischen Union): das polnische Machtzentrum hatte sich im Laufe des Mittelalters nach dem Süden verlagert. In den weiten Räumen des G. hatte sich hingegen die dem ostslavisch-orthodoxen Kulturkreis zugehörende Kiever Rus’ ausgebreitet, zu den von ihr geschaffenen Staatsgebilden zählten auch die Fürstentümer Halyč und Volodymyr. In der Auflösungsphase des Kiever Reiches gelangte am Ende des 12. Jh.s sogar der ungarische König Andreas für kurze Zeit auf den Halitscher Thron, und seit 1206 führten die ungarischen Könige in ihrem Titel u. a. auch die Bezeichnung „Rex Galiciae et Lodomeriae“. Auf diese Bezeichnung stützte man sich, als die in den polnischen Teilungen gewonnenen Gebiete als „Königreich G. und Lodomerien“ der Habsburgermonarchie einverleibt wurden. Halyč und Volodymyr erlebten nach dem ungarischen Intermezzo ein wechselvolles Schicksal: lange Zeit der Goldenen Horde tributpflichtig, gelangten die ukrainischen Fürstentümer schließlich 1387 endgültig in den Besitz der polnischen Krone. Seit damals waren Kleinpolen und Rotreußen im polnischen Königreich vereint, doch führten beide Landschaften auch weiterhin eine gesonderte Existenz. Es kam zu einer polnischen Königs- und Adelsherrschaft über ostslavische Bauern, die Ukrainer (Ruthenen) waren und blieben sprachlich und konfessionell Fremde. Die ins Land kommenden katholischen polnischen Adeligen wurden mit Landbesitz und Ämtern ausgestattet, oft zum Nachteil der einheimischen orthodoxen Bojaren- und Fürstenfamilien, die bald im polnischen Adel aufgingen.

Wesentlich für die weitere Entwicklung der nachmals österreichischen Gebiete war die Tatsache, dass das Zentrum des polnischen Staates auch unter den Jagiellonen sich im Süden befand, diese Gebiete also von Kunst und Kultur des Königshofs und der Adelsresidenzen profitierten. Besonders auffallend wird das am Beispiel Krakaus, dessen Königsburg Wawel inklusive der Krönungskirche zu den absoluten Meisterwerken der italienischen Renaissance zählen. Das 16. Jh. gilt in kultureller Hinsicht als „goldenes Zeitalter“ Polens; der Süden hatte besonderen Anteil daran. Mit der Verlegung der Residenz nach Warschau (1596, doch blieb Krakau bis zum Regierungsantritt des letzten polnischen Königs, 1764, Krönungsstadt) sank langsam die Bedeutung von Krakau und des gesamten Südens. Dazu hat freilich auch die Umwandlung Polens in Richtung einer Adelsrepublik beigetragen. Nach dem Aussterben des letzten Jagiellonen-Königs 1572 wurde Polen ein Wahlkönigreich, in dem die politische, kulturelle und soziale Führungsrolle immer eindeutiger auf den – in sich mehrfach gegliederten – Adel überging. Auch die Umwandlung der Polnisch-Litauischen Union in eine Realunion mit der Übertragung der polnischen Verfassungsstrukturen auf Litauen stärkte den Adel. Während der Hochadel ökonomisch an Potenz gewann und Latifundien mit mehreren Dutzend Bauerndörfern keine Seltenheit waren, der Kleinadel, die szlachta, zumindest von den immer zahlreicher werdenden adeligen Privilegien profitierte, kamen die Bauern in immer drückendere Abhängigkeit: die bis zum Ende des 16. Jh.s vorherrschende Grundherrschaft wandelte sich langsam zu einer Gutsherrschaft, sodass die Bauern faktisch zu Leibeigenen wurden.

Besonders drückend empfanden die ruthenischen Bauern diese Entwicklung, kam doch bei ihnen neben der sozialen und sprachlichen auch die konfessionelle Distanz zum Adel hinzu. Zwar war das Jagiellonen-Reich von konfessioneller Vielfalt und einem nicht unerheblichen Grad an Toleranz gekennzeichnet (was für die Juden bis weit ins 17. Jh. galt), doch machten sich sowohl die beginnende Gegenreformation als auch die staatsrechtlichen Änderungen innerhalb der Polnisch-Litauischen Union (im 17. Jh. waren im Gesamtstaat rund 60 % der Bevölkerung orthodox und 40 % katholisch) in Richtung einer stärkeren Betonung des Katholizismus bemerkbar, die schließlich auch in einer rechtlichen Benachteiligung der nichtkatholischen Bevölkerung (auch des Adels) resultierte. 1655 erklärte König Jan II. Kazimierz die Gottesmutter Maria zur „Königin Polens“, solcherart die bis heute tiefverwurzelte Verbindung von katholischem Glauben und Freiheitsgedanken der Polen begründend. Schon 60 Jahre vorher, 1595/96, war es zur folgenreichen Union von Brest gekommen, in der die orthodoxen Bischöfe von Litauen unter Wahrung ihrer Gebräuche der Jurisdiktion der römischen Kirche unterstellt wurden; damit war die Griechisch-unierte Kirche begründet. Doch ausgerechnet die beiden (später galizischen) Bistümer von Lemberg und Przemyśl widersetzten sich. Erst 1681 beschworen sie das katholische Glaubensbekenntnis und 1720 wurde unter der Ägide des Basilianer-Ordens auf der Synode von Zamość eine Annäherung an den lateinischen Ritus beschlossen, der schließlich zur Entwicklung des für die galizischen Ruthenen des 18. und 19. Jh.s charakteristischen Mischritus führte. Trotz der fließenden Übergänge im Bereich des Ritus standen einander polnische „Adelskirche“ sowie „Herrenglaube“ und ruthenische „Volkskirche“ und „Bauernglaube“ auch weiterhin schroff gegenüber. Der soziale Gegensatz wurde durch den konfessionellen verstärkt, der seinerseits im Lauf des 19. und 20. Jh.s in einen nationalen münden sollte, waren es doch die Geistlichen, die lange Jahre an der Spitze der ruthenischen Nationalbewegung standen. Nicht zuletzt wegen der nationalen Konnotation 1946 auf Anordnung Moskaus in Ost-G. verboten und mit der orthodoxen Kirche zwangsvereinigt, wurde die griechisch-katholische, mit Rom unierte Kirche 1989 wieder zugelassen.

Es waren nicht nur die stets wiederkehrenden und unter ständiger Einmischung des Auslandes erfolgenden Königswahlen, die den Machtverfall Polens beschleunigten. Innenpolitisch verlor der König immer mehr an Macht, und die politisch einflussreichen Magnaten kümmerten sich stärker um ihr eigenes Wohl und weniger um das des Königreiches. Sie waren die eigentlichen Träger der Staatsgewalt. Kein neues Gesetz konnte ohne Zustimmung der im Sejm, dem Reichstag, stimmberechtigten Adeligen beschlossen werden, außerdem musste bei allen Entscheidungen des Sejm Einstimmigkeit herbeigeführt werden (Liberum Veto). Das hatte zur Folge, dass auf vielen Gebieten (das kulturelle ausgenommen) Stagnation überhand nahm. Von den 55 Reichstagen zwischen 1652 und 1764 endeten 48 ergebnislos, weil Abgeordnete, bestärkt durch Geld und Gunstbeweise verschiedenster Interessengruppen, von ihrem Vetorecht Gebrauch machten. Die kriegerischen Auseinandersetzungen, Aufstände und wirtschaftlichen Krisen, die Polen heimsuchten, trafen die im Südosten Polens liegenden Gebiete besonders schwer. Lemberg, die einst blühende Patrizierstadt, in der neben den katholischen (polnischen und deutschen) Bürgern auch Juden, Ruthenen und Armenier eine wichtige Rolle spielten, verfiel zusehends. Einige aufgeklärte Adelige und Bürger versuchten, sich der immer stärker werdenden Fremdbestimmung entgegenzustellen, doch ihre Bemühungen blieben letztlich erfolglos. Polen war aus einem Subjekt zu einem Objekt der internationalen Staatengemeinschaft geworden.

1772 nutzten Russland, Preußen und Österreich innerpolnische Auseinandersetzungen um die Gewährung von mehr Rechten an die Nichtkatholiken dazu, um von Polen die Abtretung etwa eines Drittels seines Staatsgebietes zu erlangen. Den größten und bevölkerungsreichsten Anteil daran sicherte sich Österreich, das die neu gewonnenen Gebiete als „Königreich G. und Lodomerien“ (in Erinnerung an alte ungarische Traditionen) einrichtete. Zur Hauptstadt wurde Lemberg bestimmt. Die alte Krönungsstadt Krakau verblieb bis 1795 bei Polen, als sie im Zuge der dritten polnischen Teilung (die gleichzeitig das Ende der polnischen Staatlichkeit bedeutete) gemeinsam mit weiteren Gebieten Kleinpolens nördlich der Weichsel und zwischen Weichsel und Bug an Österreich fiel. 1809 gingen diese Gebiete wieder verloren, eine Entscheidung, die der Wiener Kongress 1815 bestätigte. Krakau wurde als eine unter der gemeinsamen Kontrolle der drei Teilungsmächte stehende Republik eingerichtet; nach der Niederwerfung eines nationalen Aufstandes im Jahr 1846 wurde die Stadt samt ihrer Umgebung an Österreich angeschlossen. Schon 1786 war die 1775 vom Osmanischen Reich an Österreich abgetretene Bukowina als separater Kreis dem Königreich G.-Lodomerien angegliedert worden; erst 1849 kam es zur dauerhaften administrativen und politischen Trennung von G., die (sieht man von einem kurzen Intermezzo 1860 ab) bis 1918 Bestand hatte.

Die Übernahme G.s durch Österreich hatte für das Land gravierende Folgen. Der einheimische Adel ging seiner Mitwirkung an den politischen Entscheidungsprozessen verlustig. Das Land wurde in den hierarchisch gegliederten österreichischen Verwaltungsorganismus eingebaut, bei dem die wichtigsten Entscheidungen in Wien bzw. im Gubernium in Lemberg fielen und vom zentralistisch orientierten Beamtentum (unter Verwendung der deutschen Amtssprache) exekutiert wurden. Die Josephinischen Reformen kamen auch bzw. ganz besonders in G. zum Tragen: Joseph II. förderte die Schulbildung durch Schaffung eines Netzes neuer Volksschulen, insbesondere aber durch die Gründung einer neuen Univ. in Lemberg, unterstützte die griechisch-katholische Kirche, erließ das Toleranzpatent für die galizischen Juden (wobei die Minimierung ihrer Mittlerrolle in der ländlichen Ökonomie im Zentrum seiner Überlegungen stand), v. a. aber suchte er die Lage der Bauern durch die Aufhebung der Leibeigenschaft und eine umfassende Steuer- und Urbarialreform zu bessern. Insgesamt zielte die Stoßrichtung der Reformen auf eine schleichende Entnationalisierung und Einbindung G.s in den österreichischen Gesamtstaat ab. Wenn auch manches wieder zurückgenommen wurde, beweist z. B. die Schaffung des Westgalizischen Gesetzbuches (1797), dass der Reformeifer auch in nachjosephinischer Zeit nicht gänzlich erlahmte, bzw. dass G. sogar als „Exerzierfeld“ für so manche Neuerung (hier das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch) diente. Freilich blieb das Verhältnis zwischen Bauern und Grundherren den ganzen Vormärz hindurch ein höchst brisantes Thema, das 1846 eskalierte: Die damals von nationalen polnischen Adelskreisen ausgegangene Aufstandsbewegung wurde durch eine antifeudale Revolte ihrer bäuerlichen Untertanen blutig erstickt, ein Ereignis, das sich tief ins polnisch-adelige Bewusstsein eingegraben hatte.

Die Revolution von 1848 hatte in G. bedeutsame Reformen in Verwaltung, Wirtschaft, Justiz- und Schulwesen zur Folge; wichtig war die Abschaffung der Grunduntertänigkeit und der Fronarbeit der Bauern. Es war jedoch erst die konstitutionelle Ära, die G. wesentliche Veränderungen brachte. Großen Anteil daran hatte aber auch ein Perspektivenwechsel innerhalb der polnischen politischen Klasse. Das Scheitern des von der polnischen Nationalbewegung mit ihrer deutlich revolutionären und demokratischen Ausrichtung inszenierten Aufstandes von 1863 führte dazu, dass man das Schlagwort von der „organischen Aufbauarbeit“ im Sinne einer Anpassung an die Realitäten verstand, sprich sich mit dem österreichischen Staat arrangieren und mit ihm kooperieren wollte, um durch eine staatsloyale Haltung die Interessen der polnischen szlachta in G. zu wahren. Ausdruck dieser Politik wurde nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867, bei dem G. der cisleithanischen Reichshälfte zugeschlagen wurde, die „galizische Landesautonomie“. Diese folgte keinem theoretisch stringenten Konzept, sondern beruhte auf einer Vielzahl von Einzelbestimmungen und v. a. auf der politischen Praxis, die den Polen in G. schließlich via facti die Stellung einer „herrschenden Nation“ verschaffte.

Die Anerkennung der nationalen Rechte der polnischen Gesellschaft und die Entwicklung der Selbstverwaltung hatte einen positiven Einfluss auf die Modernisierungprozesse im Lande. Der Fortschritt bezog sich v. a. auf eine erhöhte Mitarbeit am politischen System. Mehrere Minister und zahlreiche Abgeordnete vertraten die galizischen Interessen in Wien, wobei die Politiker in ihrer überwiegenden Mehrzahl die politischen Positionen der Regierung mittrugen und unterstützten. In G. hingegen waren Verwaltung, Justiz und höheres Bildungswesen polonisiert worden, sodass der Einfluss der Wiener Zentralregierung vergleichsweise viel geringer war als in anderen Kronländern, das deutsche Element rasch zurückgedrängt wurde und v. a. der zweiten in G. siedelnden Nationalität, den Ruthenen, nicht dieselben Entfaltungsmöglichkeiten geboten wurden wie den Polen. Für sie war G. zu einem „polnischen Piemont“ geworden, in dem sie nicht nur den Traum von der Eigenstaatlichkeit träumen, sondern auch praktische Erfahrungen sammeln konnten, die ihnen nach 1918 zugute kommen sollten.

Hinsichtlich der Existenzbedingungen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung und der wirtschaftlichen Entwicklung blieb G. im Vergleich zu den anderen Teilungsgebieten jedoch zurück. Rund 80 % der Bevölkerung lebten von der extensiv betriebenen Landwirtschaft; dabei war G. einerseits ein Land großer Latifundien, andererseits kleiner Bauernwirtschaften, etwa 42 % der Besitzungen entfielen auf Landwirtschaften unter 2 Hektar, die ein Überleben am Existenzminimum gerade noch ermöglichten. Das Dorf lebte an der Armutsgrenze, wozu die Überbevölkerung und das niedrige Niveau der Landwirtschaftstechnik wesentlich beitrugen. Da die Arbeitslosigkeit unter den Dorfbewohnern permanent anstieg, suchten Viele ihr Heil außerhalb der Landwirtschaft, sei es, dass sie überhaupt das Land verließen (bis zum Jahre 1914 emigrierte ca. eine Million Menschen aus G.), sei es, dass sie in Industrie und Handel ihr Glück versuchten. Beide Wirtschaftszweige waren mit der Landwirtschaft stark verbunden. Für die Industrieproduktion gab es jedoch längere Zeit hindurch keine guten Entwicklungsbedingungen. Ein wesentlicher Stagnationsfaktor war der Kapitalmangel. Die galizischen Gutsbesitzer zeigten kein Interesse an der Industrieentwicklung, das bürgerliche Kapital war zu schwach und das Fremdkapital vermied es, hier zu investieren. Gegenüber der schwach entwickelten Fabrikindustrie spielten in G. kleine Handwerkerwerkstätten, die für den täglichen Gebrauch produzierten, eine große Rolle. Etwa 80 % des lokalen Handels und Gewerbes lagen in jüdischen Händen, was – neben ihrer Mittlertätigkeit in der agrarischen Welt – nicht zuletzt eine der Ursachen für das Vorhandensein einer relativ breiten antisemitischen Grundströmung war (die übrigens auch durch die Akkulturation großer Teile der jüdischen Elite G.s nicht eingedämmt werden konnte). Von überregionaler Bedeutung war bloß die Salz-, Kohle- und Erdölförderung. Es entwickelte sich allmählich eine chemische Industrie; es entstanden einige große Raffinerien und in Krakau Werke zur Sodaherstellung. Der Bau der Eisenbahnlinien förderte weniger die Wirtschaft G.s, er berücksichtigte vielmehr die strategischen Motive der Monarchie, die von der langen und ungeschützten Grenze gegenüber dem Russischen Reich dominiert war. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die – ohnehin nur zögernd einsetzende – wirtschaftliche Modernisierung fast nur den Westen ergriff. Dieser öffnete sich im Zuge des 19. Jh.s allmählich der modernen kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Hier wurden soziale Umschichtungsprozesse ausgelöst, in deren Folge es dem wachsenden städtischen Bürgertum, der Intelligenz und der langsam entstehenden Industrie- und Landarbeiterschaft gelang, die altständische Gesellschaftsordnung von innen her aufzulösen. Anders die Situation im Osten: dort blieb der gesellschaftliche status quo erhalten. Die polnische Großgrundbesitzeraristokratie konnte auch weiterhin ihre – vorwiegend ruthenischen – Bauern ausbeuten und diskriminieren.

Zweifellos günstige Resultate zeitigte die galizische Autonomie auf kulturellem Gebiet. Es kam zu einer raschen Entwicklung des Schulwesens, das auf allen Stufen polonisiert wurde (der Unterricht an der Krakauer Univ. erfolgte ab 1870 ausschließlich in polnischer Sprache, an der Lemberger Univ. galt teils die ruthenische, teils die polnische Vortragssprache). Besonders die Geschichtswissenschaft nahm einen großen Aufschwung: der Trend, sich sachlich-kritisch mit der Geschichte, der Sprache, der Literatur und der Volkskunde auseinander zu setzen und in großen Überblicksdarstellungen, Quelleneditionen und Nachschlagewerken die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten, entsprach dem Anliegen der Propagatoren der „organischen Aufbauarbeit“, die übrigens nicht selten selbst Univ.Prof.en waren. Es entstanden neue Presseorgane, ein großes Interesse für Kunst und Kultur machte sich bemerkbar. Man schuf Theater und Bibliotheken (das deutsche Theater in Lemberg wurde hingegen Anfang der 1870er Jahre geschlossen), neu entstandene kulturelle Gesellschaften organisierten Musik-, Wissenschafts- und Bildungsveranstaltungen. Ihr Programm richtete sich nicht nur an gebildete Kreise, sondern auch an das Bürgertum und das sich langsam bildende Arbeitermilieu. Lemberg und Krakau, das „polnische Athen“, wirkten mit ihrer Kultur- und Bildungstätigkeit weit über die Grenzen des Landes hinaus. Die wichtigste kulturelle Institution mit einer Ausstrahlung in den ganzen polnischen Raum war die 1871/72 gegründete Akademie der Wissenschaften in Krakau. Auch auf dem Gebiet der Literatur und der Malerei dominierte anfangs eine aufklärerisch-erzieherische Richtung: die historischen Romane eines Henryk Sienkiewycz sind hier ebenso zu nennen wie die Historienmalerei von Jan Matejko. Gegen Ende des 19. Jh.s machte sich v. a. in Krakau eine neue Stilrichtung bemerkbar, das „Junge Polen", eine vom Wiener Jugendstil beeinflusste Richtung, die ihren Ausdruck sowohl in der Literatur als auch im Theater, der Malerei, der Musik und der Architektur fand und deren Vertreter zu teilweise recht individuellen Lösungen gelangten.

Die Vorteile der „galizischen Autonomie“ kamen allerdings in erster Linie den Polen zugute, nicht den Ruthenen (und auch nicht den Juden). Seitdem einzelne Ruthenen 1848 – so wie die Vertreter der anderen Nationalitäten auch – ihren Anspruch auf Bewahrung, Beachtung und Ausbau ihrer nationalen Existenz angemeldet hatten, hatten sie sich der – offenen oder unterschwelligen – Unterstützung der Wiener Regierung erfreut. Nunmehr gingen die Ruthenen der Stütze der Wiener Zentrale verlustig und sahen sich daher den polnischen Herrschaftsbestrebungen schutzlos ausgeliefert. Im Zusammenhang mit innerruthenischen Differenzen (in Russophile und Ukrainophile) führte das dazu, dass die Ruthenen weder auf dem landespolitischen noch dem reichspolitischen Parkett sonderlich in Erscheinung traten und sich vornehmlich kulturpolitischen Aufgaben widmeten (wobei sie trotz Behinderung seitens des polnischen Verwaltungsapparates beachtliche Leistungen erzielten). Ende des 19. Jh.s kam es schließlich zur verstärkten Entwicklung eines nationalen Bewusstseins auch bei den Ruthenen. Es entstanden Parteien, die die Gleichberechtigung mit den im politischen, ökonomischen und kulturellen Bereich privilegierten Polen anstrebten. Anfang des 20. Jh.s verstärkten sich die sozialen und nationalen Konflikte zwischen und innerhalb der Nationalitäten. Ein 1914 geschlossener „Ausgleich“, der sowohl die neu entstandenen politischen Parteien als auch die Nationalitäten (Polen, Ruthenen und Juden) in einen neuen Rahmen für ein geordnetes Zusammenleben hätte einbinden sollen, wurde nicht mehr wirksam. Im Ersten Weltkrieg wurde G. zum Schauplatz von mehrfach wechselnder militärischer Besetzung, Zerstörung, Gewalt und Not, was die Spannungen zwischen den Nationalitäten nur noch verstärkte.

Ab dem November 1918 kam es in Ost-G. zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Polen und Ukrainern, der Proklamation eines unabhängigen westukrainischen Staates war kein bleibender Erfolg beschieden, sodass schließlich ganz G. in dem wieder erstandenen unabhängigen polnischen Staat aufging; im Frieden von Riga (1921) wurde die Zugehörigkeit Ost-G.s zur Polnischen Republik bestätigt. Im September 1939 besetzte die UdSSR Ost-G. und annektierte das Gebiet wenig später, das 1941 von deutschen Truppen besetzt wurde. Es verblieb nach der Rückeroberung durch die sowjetische Armee bei der UdSSR, was in dem am 16.8.1945 zwischen der sowjetischen und der polnischen Regierung abgeschlossenen Grenzvertrag festgeschrieben wurde. Die seit August 1991 selbständige Ukraine hat im Mai 1992 mit Polen einen Freundschaftsvertrag abgeschlossen, der u. a. auch die Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen enthält. Die nach 1918 zahlreichen Grenzveränderungen und die im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen erfolgten Deportationen und Gräueltaten brachten Bevölkerungsverschiebungen größten Ausmaßes mit sich, die im wesentlichen zulasten der Polen, Juden und Deutschen (die seit Joseph II. zur Verbesserung der agrarischen Infrastruktur auch planmäßig in G. angesiedelt worden waren) gingen. Die Westukraine (das ehemalige Ost-G.) ist heute zu fast 95 % ukrainisch besiedelt, das zu Polen gehörige West-G. ist dagegen fast zur Gänze polnisch. Das trotz mitunter sehr heftiger Spannungen produktive Neben- und Miteinander verschiedener ethnischer Gruppen gehört der Vergangenheit an.

(II) Die Musikkultur Ost-G.s in seinen ukrainischen Gebieten mit der Hauptstadt Lemberg.

Die Anfänge der Musikerziehung liegen in der Zeit des Galizisch-Wolhynischen Fürstentums. Ab dem 16. Jh. wirkten Musikzünfte, die sowohl geistliche als auch weltliche Musik aufführten. Sie unterhielten Schulen, in denen mehrstimmige Musik unterrichtet und mehrstimmiger Gesang (partesnyj spiv) gepflegt wurde. Dieser Stil wurde Anfang des 17. Jh.s nach Kiew übertragen und breitete sich durch ukrainische Sänger bis in die Moskauer Rus’ aus. Die berühmteste Musikzunft, die Stawropihianische Bruderschaft (Stawropihijske Bratstwo, 1585) mit östlichem Ritus, unterhielt eine eigene Chorkapelle, besaß eine umfangreiche Notenbibliothek und eine eigene Druckerei, in der Ende des 16. Jh.s erste liturgische Gesangbücher (irmoloj [Irmologion]) gedruckt wurden. Notenfunde in Lemberger Archiven (u. a. Tabulaturen für Laute und Orgel) bezeugen das Niveau des Musiklebens (zwei Kataloge aus Lemberg von 1697 belegen 398 Werke ukrainischer Komponisten für 3 bis 12 Stimmen).

Seit der Renaissance sind Namen einzelner Musiker bekannt: Marcin Leopolita (ca. 1540 Lemberg – 1589 Lemberg) ließ sich in seinen Kirchenwerken von den Traditionen der franko-flämischen Schule leiten und wurde 1560 zum compositor cantus am Hof König Sigmunds II. August. Jan Brandt Poznanczyk (1551–1601) verfasste Liedertexte in lateinischer und polnischer Sprache.

Im späten 17. Jh. war Stanislaw Serwazynski ein bedeutender polnischer Komponist der Stadt, um 1740 wirkte J. Staromiejski an der Dominikanerkirche. 1742–54 arbeitete hier Johann Philipp Kirnberger (1721–83) als Clavicembalospieler, Kapellmeister und Lehrer. In der 2. Hälfte des 18. Jh.s war der Chor der griechisch-katholischen Kathedrale zum Hl. Georg (Swiatoho Jura) in Lemberg bedeutend, dessen Chorregent Andrij Ratschynskyj (1724–94), Zögling des Lemberger Kollegiums, erste vokale geistliche Konzerte komponierte.

Seit 1772 dominierte in G. der österreichische Einfluss. 1776 entstand das k. k. Privilegierte Theater in Lemberg und bildete fast ein ganzes Jh. bis 1872 das Zentrum der Musikkultur der Region. Das öffentliche Musikleben wurde überwiegend von auswärtigen Kräften beherrscht, die mit den Einheimischen zusammenwirkten. In G. liefen Einflüsse aus Polen, Mähren, Böhmen und Österreich zusammen, Lemberg wurde zum Musikzentrum. Neben der Pflege von Kirchenmusik und gelegentlichen Konzerten wandten sich Musikliebhaber verstärkt dem Singspiel zu. 1785 übersiedelte das Theater in die auf Anordnung Josephs II. umgebaute Franziskanerkirche, 1842 in ein von Graf Stanislaw Skarbek neuerbautes Gebäude, das 1460 Besucher fasst und heute als ukrainisches Schauspielhaus verwendet wird. Das Theater verfügte über eine Schauspiel- und eine Operntruppe, bis in die 1870er Jahre traten hier auch polnische Theatertruppen auf. 1792–99 war Joseph Elsner (1769 Breslau – 1854 Warschau) in Lemberg, führte als Kapellmeister am polnischen Theater Opern W. A. Mozarts auf (1790 Don Giovanni, 1804 La Clemenza di Tito und Zauberflöte) und war 1796 gemeinsam mit dem polnischen Violinisten und Komponisten K. Lipinski an der Gründung der musikalischen Akademie beteiligt (Veranstaltung von Symphonie- und Kammerkonzerten mit professionellen Musikern aus dem Theaterorchester und Amateuren).

1803–12 und 1817–35 organisierte J. G. A. Gallus Mederitsch öffentliche Konzerte. Das erste Abonnementkonzert mit klassischer Kammermusik veranstaltete I. Schuppanzigh mit seinem Streichquartett. 1808–38 lebte mit Unterbrechungen Mozarts Sohn Franz Xaver (1791–1844), der sogenannte „Lemberger Mozart“ in G. Er kam auf Einladung des Grafen Baworowski als Musiklehrer für dessen Kinder, war vermutlich Kapellmeister am Lemberger Theater und gründete 1826 den ersten galizischen Musikverein, den Caecilien-Verein, mit dem er u. a. J. Haydns Schöpfung, Mozarts Requiem und L. Cherubinis Requiem aufführte. Er schrieb den Großteil seiner Werke in G. – Kammermusik, Klavierminiaturen, Variationenzyklen (in der d-moll Variation Einfluss ukrainischer Folklore), Chor-Kantaten. J. Ruckgaber lebte ab 1826 in Lemberg, wo er als Komponist, Pianist, Pädagoge und Musikkritiker tätig war. Sein Lebenswerk war die Gründung des aus dem 1835 entstandenen Verein der Musikfreunde hervorgegangenen Galizischen Musikvereines 1838, dessen erster Direktor und Leiter des Vereinskonservatoriums er wurde. Der Verein veranstaltete viele von Ruckgaber organisierte Konzerte (u. a. L. v. Beethovens Sinfonia Pastorale, Felicien Davids Die Wüste, Werke von Haydn, Mozart, Hector Berlioz, F. Chopin, G. Rossini, S. Thalberg, auch F. Liszt trat im Zuge seiner letzten Konzertreise 1847 in Lemberg auf) und engagierte sich in der Musikausbildung. Mit der Revolution 1848–51 endete die Tätigkeit des Vereins.

Die Kirchen – die römisch-katholische (Musikdirektoren Josef Baschny, Henryk Jarecki [1874–1900]), die griechisch-katholische (Musikdirektor Waclaw Rolleczek) und die unierte armenische (Musikdirektoren Josef Frodl, Jakub Hössly) – pflegten Musik auf hohem Niveau. Insgesamt blieb das internationale, professionelle Musikleben G.s ein Privileg des polnischen Adels und des Bürgertums.

Die ukrainische Musiktradition war überwiegend von Chormusik bestimmt, was auch im Zuge der österreichischen Kirchenreformen eine Rolle spielt: 1774 wurde in Wien bei der bis heute als griechisch-katholische Kirche existierenden St. Barbara das Bildungszentrum der Unierten Gläubigen gegründet (Barbareum), die griechisch-katholische Kirche wurde der römisch-katholischen gleichgestellt, 1784 wurde in Lemberg die Josephinische Univ. mit einer theologischen Fakultät und einem ukrainischen Lehrstuhl gegründet und am griechisch-katholischen Priesterseminar und dem Stauropigianischen Institut gab es hervorragende Studentenchöre. Altslawische Kirchenmusik und Werke ukrainischer Komponisten (z. B. Dmytro Stepanowitsch Bortnianskyj [1751–1825], Artemy Wedel [1767–1806], Maxim Sosonowitsch Beresowskyj [1745–77]) wurden öffentlich aufgeführt. Außer dem volkstümlichen Kirchengesang (Samujilka) wurde auch Kunstgesang eingeführt. Auf Basis des in den 1820/30er Jahren berühmt gewordenen Chors der Kathedrale in Peremyschl gründeten M. Werbyckyj und Iwan Lawriwskyj (1822–73) die erste musikalische Ausbildungsstätte G.s (Peremyschlska schkola [Peremyschl-MSch.]), die von fast allen bekannteren Vertretern der galizischen Musik Anfang des 19. Jh.s absolviert worden ist (neben dem komponierenden Priester Porphyryj Bashanskyj [1836–1920] u. a. Wiktor Matjuk [1852–1912], Josyph Kyschakewytsch [1872–1940], Petro Ljubowytsch [1826–69], Josyph Lewytzkyj [1801–60]) und das ukrainische musikalische Milieu prägte. Werbyckyj wurde zum Begründer der meisten Gattungen in der ukrainischen Musik jener Zeit; er schuf über 20 Singspiele, etwa 40 kirchliche Kompositionen, 30 Chöre mit weltlichem Inhalt, Werke für Orchester und Sologesänge und vertonte auch die Staatshymne der Ukraine, Schtsche ne wmerla Ukrajina [Noch ist die Ukraine nicht verloren]. Der bedeutendste Vertreter der polnischen MSch. in G. war der schon erwähnte K. Lipinski.

Die weltliche Musikkultur G.s spiegelte das gesamteuropäische romantische Phänomen des Strebens nach nationaler Kultur (Nationalstil), in deren Gefolge ethnographische Studien betrieben wurden. Lied, Epos und Ritus wurden von zentraler Bedeutung: 1837 veröffentlichten drei Absolventen des Lemberger Priesterseminars (Markijan Schaschkewytsch [1811–38], Jakiw Holowackyj [1814–88], Iwan Wahylewytsch [1811–66]), bekannt als ruthenische Triade, den literarisch-wissenschaftlichen Almanach Rusalka Dnistrowa [Dnisternixe], der auch Volkslieder enthielt, und 1838 gab Wazlaw Zaleskyj seine erwähnte vielbenutzte Sammlung heraus. Aus Motiven der Karpatenregion schufen ukrainische Musikfreunde nach dem Muster des romantischen Liedes die sog. altgalizische Elegie (z. B. Myr wam, brattja [Friede sei mit euch, Brüder], T: Pater I. Huschalewytsch, M: Teodor Leontowytsch [1812–86]). Komponierende Pfarrer stellten Volksliedersammlungen und Lehrbücher zusammen, nahmen als Sänger und Instrumentalisten an musikalischen Veranstaltungen teil (z. B. die als virtuose Zitherspieler bekannten Mykola Kumanowskyj [1846–1924], Jewhen Kuptschynskyj [1867–1936]). Besonders bedeutend für die ukrainische Musik und das nationale Selbstbewusstsein waren die Dichtungen von Taras Schewtschenko, die oft vertont wurden. So hat Mikola Lyssenko (1842–1912) jahrzehntelang an der Muzyka do Kobzarja ([Musik zu Kobsar], 87 Stücke in 7 Folgen, 1868–1901) gearbeitet, die Lieder, Chöre und ganze Kantaten umfasst (sein Nachfolger in der Vertonung war 1910–15 St. Ludkewytsch, z. B. 1913 symphonische Kantate Kavkaz [Kaukasus]).

1867 wurde G. autonom und der österreichische Einfluss im kulturellen und gesellschaftlichen Leben ging zurück. Das deutsche Theater in Lemberg wurde zum polnischen Theater, in dem unter der Leitung von Henryk Jarecki, Tadeusz Pawlikowski (1900–06) und Ludwik Heller (1906–18) das deutsche und polnische Opern- und Operettenrepertoire aufgeführt wurde. Als Reaktion auf das Erwachen des Nationalbewusstseins wurde 1864 vom Verein Ruska besida unter Omelian Batschynskyj (1834–1906) das ukrainische Theater gegründet. Vereine waren allgemein die Organisatoren des Musiklebens. Sie unterhielten Chöre, Orchester und Bibliotheken, traten in Lemberg und in der Provinz auf, wo sie Tochter-Vereine gründeten. Sie veranstalteten Wettbewerbe für Chorkompositionen, publizierten preisgekrönte Stücke und bereicherten damit die nationale Musikliteratur. Nach dem Oktobererlass Kaiser Franz Josephs I. vermehrte sich die Zahl der Vereine beträchtlich: Von den mehr als 300, die zwischen 1898 und 1916 in Lemberg nachgewiesen sind, spielen 70 eine wesentliche Rolle für das Musikleben. Die Tätigkeit der Vereine wirkte auf die Entwicklung des Gesellschaftslebens und erhöhte das professionelle Niveau auch im Bereich der Musik.

Der Galizische Musikverein veranstaltete jährlich bis zu 10 Konzerte, teilweise mit eigenen Ensembles (Männer-, Frauen- und gemischter Chor, Streichorchester und zeitweilig Symphonieorchester mit Bläsern des Theaterorchesters bzw. der Militärkapelle), die auch gelegentlich in den Konzertprogrammen anderer Vereine auftraten. Der Verein führte viele große Oratorien und Symphonien auf (z. B. G. B. Pergolesis Stabat Mater, G. F. Händels Messias, J. S. Bachs Johannes- und Matthaeuspassion, G. Verdis Requiem, Mozarts Messe B-dur, Felix Mendelssohns Lauda Sion, Elias, Beethovens Christus am Ölberge und Missa Solemnis, R. Schumanns Das Paradies und die Peri, Edvard Griegs Olaf Trygwason) und veranstaltete auch konzertante Opernaufführungen (z. B. Ch. W. Glucks Orpheus und Eurydike, Rich. Wagners Tristan und Isolde). In der 2. Hälfte des 19. Jh.s waren K. Mikuli, Meczyslaw Soltys (1863–1929) und dessen Sohn Adam (1890–1968) als Vorsitzende des Vereins (Mikuli 1858–87, M. Soltys 1899–1929 und A. Soltys 1929–39) zugleich Direktoren des Konservatoriums. Bekannte polnische und ukrainische Musiker (u. a. der Pianist Leopold Muenzer) und Sänger (Solomija Kruschelnycka [1872–1952], Marcelina Sembrich-Kochanska, Janina Korolewycz-Wajdowa, O. Myschuha, Adam Didur) waren Absolventen des Konservatoriums, ebenso Komponisten und Musikwissenschaftler (M. und A. Soltys, Zofia Lissa [1908–80], Wassyl Barwinskyj [1888–1956]). Namhafte Musikamateure und Berufsmusiker waren Mitglieder des Vereins (Josef Kessler, E. Polettin, A. Pfeifer, E. Bauer, Josef Baschny, Z. Milan, A. Wachnianyn, O. Myschuha), die Komponisten Henryk Weniawski, Stanisław Moniuszko und J. Brahms zählen zu seinen Ehrenmitgliedern. Verdienstvolle Interpreten waren Mitglieder seines ständigen Kammerensembles (die Geiger Zygmunt Bruckmann, Franciszek Slomkowski, Maurycy Wolfstahl; die Cellisten Johan Wollman, Alois Sladek; die Pianisten K. Mikuli, Henryk Melzer, Wladyslaw Wszelaczynski, T. Pollak), auch M. Rosenthal erhielt hier seine erste Ausbildung bei Mikuli.

Der 1864 gegründete Verein für Instrumentalmusik [Towarzystwo dla muzyki instrumentalnej] Harmonia war bis 1914 als städtisches Symphonieorchester mit finanzieller Unterstützung des Stadtrats tätig. 1886 eröffnete der Verein eine MSch., in der Solo- und Chorgesang, Harmonielehre, Kontrapunkt, Formenlehre und Musikgeschichte unterrichtet wurden.

1878 wurde die literarische Schewtschenko-Gesellschaft gegründet, die 1892 zur Wissenschaftlichen Gesellschaft und 1898 nach dem Vorbild der Akademien reformiert wurde. Die von ihrem Ethnographisch-musikwissenschaftlichen Ausschuss geleistete Arbeit von St. Ludkewytsch, Osyph Rosdolskyj (1872–1945), Iwan Franko (1856–1916) und besonders Ph. Kolessa brachte bedeutende Resultate. Kolessas theoretische Arbeiten setzten den Beginn der systematischen Erforschung der ukrainischen Volksmusik, er fertigte zahlreiche Aufnahmen der ukrainischen Dumy der Kobsaren mit dem Phonographen an, hatte enge Kontakte zu Béla Bartók und erhielt für seine Leistungen auch internationale Anerkennung.

1880 kam es infolge einer Spaltung im Chor des Galizischen Musikvereins zur Gründung des Gesangvereins Lutnia [Laute], der an Bedeutung die Chöre des Galizischen Musikvereins überflügelte. Der erste Musikdirektor und Dirigent war ein Musikliebhaber, der Stadtratssekretär Stanislaw Cetwinski. 1881 entstand der Verein Lwowski chor meski [Lwiwer Männerchor], dessen Mitglieder sowohl Polen als auch Ukrainer waren. Sein Repertoire umfasste neben der westeuropäischen und polnischen Musik auch ukrainische (Anatol Wachnianyn, Mykola Lyssenko, Michajlo Werbyckyj). Mit den beiden zuletzt genannten Vereinen konkurrierte der 1885 auf Initiative des Laiensängers und Rechtsanwalts Julian Fontana gegründete Gesangverein Echo. Er wurde von M. Soltys (1886–88), Wilhelm Czerwinski (1888–91) und J. Gall geleitet. Die allgemeine Beliebtheit der Männerchöre führte zu zahlreichen Vereinen nach dem Vorbild der Liedertafeln.

Unter den Nationalitätenvereinen sind zu nennen: Deutscher Geselligkeitsverein Frohsinn (gegr. 1869), Cirkolo Italiano, Czeska beseda, Tamburicaverein Aria, Kapella narodowa [Volkskapelle], Harmonia (Verein der Lviver Musikfreunde), Kolko mandolinistow „Blekitnych“ (ein Mandolinenverein, der italienische, serbische und bulgarische Instrumente pflegte). Vereine für Instrumentalmusik entstanden um 1900 in größerer Zahl (Klub zytrystow [Klub des Zitherspiels] in Krakau und Lemberg, Lira [Verein für Liebhaber von Musik und Drama], Muzyczne towarzystwo Zwienk [Musikverein Ton], die schon genannte Harmonia, Muzyczne towarzystwo imeniu S. Moniuscki [Moniuszko-Musikverein]).

Auch außerhalb der Musikvereine gab es viele Chöre und Ensembles. Die vielen Studenten-, Sport- und Arbeitervereine, die Vereine zur Unterstützung des Schulwesens stellten ihren Mitgliedern eine allgemeine humanistische Bildung zur Verfügung, zu deren Ergänzung die Pflege von Musik, Gesang und Theater diente. Diese Aufführungen wurden teils mit eigenen Kräften vorgenommen, teils traten sie als Organisatoren auf. Der aufklärerische Kulturverein Proswita (1868) schuf in der Provinz ein vernetztes System von Lesesälen mit zahlreichen Chören und Theatergruppen (1907 159 Chöre und 167 Theatergruppen, 1935 1.086 Chöre, 2.016 Theatergruppen, 130 Blas- und 4 Streichorchester). Ein weiteres Mittel des regionalen kulturellen und künstlerischen Aufschwunges waren die 1889 von O. Nyzankivskyj mit dem Studentenverein Akademitschna hromada erstmals organisierten sog. Artystytschna prohulka [künstlerische Ausflüge], die auch von entscheidender Bedeutung für die nächste Gründung eines Netzes von Chorvereinen in G. mit dem Namen Bojan (1891) war. Als Dachverband dieser Massenbewegung wurde 1903 der Sojuz spivackych I muzycznych towarystw [Vereinigung der Gesang- und Musikgesellschaften] gegründet.

Die wichtigsten Kulturereignisse in G. waren Jubiläumsfeiern, die die ganze Region erfassten. Dazu gehören einerseits Feiern zu Ehren des Nationaldichters Taras Grigorijewitsch Schewtschenko, die alle sozialen Schichten und auch ukrainische Gesellschaften des Auslandes umfassten. Andererseits waren die Werke des Schöpfers der ukrainischen Kunstmusik Mykola Lyssenko so wichtig, dass von einem Lyssenko-Kult in G. gesprochen werden kann. 1903 wurde er mit einem in Österreich und Russland begangenen Jubiläum besonders gewürdigt. Die polnischen Vereine feierten in ähnlicher Weise Persönlichkeiten wie Adam Mickiewicz oder F. Chopin.

Da es in Lemberg keine nationale Philharmonie und keine nationale Oper gab, waren Vereine die einzige Organisationsform des örtlichen Musiklebens. Sie hatten bildende und identitätsstiftende Funktion und beschränkten ihr Repertoire nicht auf Nationalmusik. Die Musik hatte im Unterschied zu Neuerungstendenzen in Literatur und Malerei eher „angewandte Funktion“, blieb daher eher traditionell und übernahm die internationalen Entwicklungen nur vorsichtig.

Die Komponisten widmeten sich v. a. sozialen Aufgaben, der Gründung von Amateurvereinen, dem Unterricht und der Musikkritik: Nachfolger an der Peremyschl-MSch. und der Lyssenko-MHsch. waren Jaroslaw Lopatynskyj (1871–1936) und Henryk Topolnyckyj (1869–1920). Wiktor Matiuk (1852–1912) komponierte als für die galizische Musik neue Gattung Sologesänge (besonders beliebt war wesniwka [Frühlingslied], nach einem Text von M. Schaschkewytsch) und gab 1884 in Leizpig sein Ruthenisches Gesangbuch für die Volksschulen heraus. Jossyph Kyschakewytsch (1872–1953) leitete den Peremyschl-Chor Bojan und komponierte Musik für alle kirchlichen Riten. O. Nyzankiwskyj veranstaltete die ersten Künstlerischen Ausflüge und komponierte Klavierminiaturen (Fantasie Witrohony), eine in der galizisch-ukrainischen Musik seltene Gattung. Denys Sitschynskyj (1865–1909) gründete den Verein Bojan in Stanislaviv, schuf die erste Oper Roxolana und ist v. a. für Sologesänge bekannt (Litschu w newoli [In Verbannung], nach einem Text von Taras Schewtschenko). Führende Persönlichkeiten des polnischen Musiklebens waren Henryk Jarecki, Karol Cetwinski, J. Gall, Stanislaw Niewiadomski (1856–1936) und Rudolf Schwarz. Sie orientierten sich am Schaffen von Moniuszko und Chopin, dessen Warschauer Lehrer Joseph Elsner ebenso in G. lebte, wie ein halbes Jh. später sein Schüler Karol Mikuli, der in seinem Sinn komponierte und unterrichtete.

1900 brachte die Eröffnung des Opernhauses (Welykyj Theater) einen Umbruch im galizischen Musikleben (1940 wurde es in Iwana Franka umbenannt, seit 2000 trägt es den Namen der berühmten ukrainischen Opernsängerin Solomija Kruschelnycka). Die Operntruppe übersiedelte aus dem Skarbek-Theater in den prachtvollen Neubau und im Lauf von 14 Jahren wurden unter Leitung von Antonio Ribera und Milan Zuna mehr als 30 Erstaufführungen veranstaltet, neben dem internationalen Standardrepertoire (Wagner, Verdi, Donizetti etc.) auch Manru von I. Paderewski, Halka, Straczny dwor, Paria, Verbum nobile von Moniuszko, Barkarola von J. Gall, Konrad Wallenrod und Goplana von Wladyslaw Zelenski, Livie Quintille von Zygmunt Noskowski, Wanda von Franz Doppler, Mazepa und Mindowe von Henryk Jarecki.

Ein weiterer Impuls des Musiklebens erfolgte 1902 mit der Gründung der Philharmonie durch Ludwig Heller (Dirigenten Vaclav Celanski, Henryk Melzer) im umgebauten Saal des Skarbek-Theaters (heute befindet sich hier das Sankowecka-Schauspielhaus). Während der ersten 7 Monate wurden 128 Konzerte mit anspruchsvollen Werken veranstaltet, die von 113.268 Zuhörern besucht wurden, doch musste die Philharmonie danach wegen finanzieller Schwierigkeiten ihre Tätigkeit unterbrechen. Besonderes Aufsehen erregten Gastauftritte berühmter Interpreten und Komponisten (G. Mahler, R. Strauss 1903, F. v. Weingartner in den 1920er Jahren). Die Konzertagenturen von Ludwik Marek (1882–1900) und von M. Turek (1908–39) arbeiteten mit Erfolg und brachten weitere Berühmtheiten nach G. (die Komponisten Lorenzo Perosi, R. Leoncavallo, Maurice Ravel, B. Bartók, W. Zelenski, M. Karlowicz, K. Szymanowski; die Sängerin S. Kurz, die Pianisten I. Tedesco, S. Thalberg, E. Sauer, E. Dohnányi, I. Paderewski, A. Rubinstein, F. Busoni, I. Friedman und L. Godowski, die Geiger E. Reményi, Jan Kubelik, Jacques Thibaud, Eugène Ysaye sowie den Cellisten Pablo Casals). 1908 eröffnete der Galizische Musikverein den ersten Konzertsaal in Lemberg (heute: Ludkewytsch Konzertsaal der Lviver Philharmonie). 1920 wurde das Symphonieorchester des Jüdischen Vereines unter der Leitung von Natan Hermelin gegründet.

1839–1918 gab es in Lemberg fast 150 MSch.n. 1902 wurde das Lwowski Instytut Muzyczny [Lemberger Musikinstitut] gegründet, 1928 in Karol Szymanowski-Konservatorium umbenannt. 1919 wurde unter dem Vorsitz von M. Soltys der polnische Musikpädagogen-Verein gegründet und der Galizische Musikverein in Polnischer Musikverein umbenannt. Auch private MSch.n waren wichtig (von Helena Ottawowa, Sabina Kasparek, Anna Nementowska).

Musikzeitschriften dokumentieren das blühende Musikleben. Schon seit der 2. Hälfte des 19. Jh.s wurden Fachblätter in polnischer Sprache herausgegeben (Monatsschrift Echo muzyczne, teatralne I artystyczne [Musik-, Theater- und Kunstecho], Tygodnik muzyczny I teatralny [Musik- und Theaterwochenblatt], Lwowski wiadomosci muzyczne I literackie [Lviver musikalische und literarische Nachrichten], Przegland muzyczne, teatralne I artystyczny [Musik-, Theater- und Kunstrundschau], Gaseta muzyczna [Zeitschrift für Musik], Wiadomosci artystyczny [Kunstnachrichten]), von denen einige das ukrainische Musikleben beleuchten (Ukrainisches Wochenblatt Ilustrowana Ukraina [Illustrierte Ukraine], Zeitschrift Zyttija I znannija [Leben und Wissen], Monatsschriften Nazustritsch [Entgegen], Ruslan). Anfang des 20. Jh.s gab es Musikzeitschriften in ukrainischer Sprache, die oft nur kurzlebig waren (Muzycznyj wisnyk [Musikalische Nachrichten], Ilustrowanyj muzycznyj kalendar Zaryckoho [Illustrierter Musikkalender], Artystycznyj wisnyk [Kunst-Bote]; in den 1920er und 1930er Jahren erschienen Muzyczni wisti [Musiknachrichten], Muzycznyj wisnyk [Musik-Bote], Muzycznyj lystok [Musikblatt] und die Monatsschrift Ukrajinska Muzyka [Die Ukrainische Musik], 1937–39).

Kennzeichnend für die Zwischenkriegszeit ist die Existenz zweier Kulturen, der autochthonen ukrainischen und der polnischen, die im ersten Jahrzehnt die an die Macht strebende Nation repräsentierte und nach dem Zerfall der Monarchie den regierenden Staat (1919–39). Obwohl die österreichische Kultur verschwindet, wird die Anziehungskraft Wiens, besonders auf Studenten, stärker.

Die Errichtung des nach dem Begründer der ukrainischen Kunstmusik benannten Lyssenko-Musikvereins (Musytschne towarystwo imeni Lyssenka) als Nachfolger des Verbandes der Gesang- und Musikvereine mit der von ihm betreuten MHsch. (ab 1907 Lyssenko MHsch.) war prägend für die musikalische Hochkultur G.s. Seine Ziele – die Ausbildung von Fachmusikern und die Verbreitung der ukrainischen Musik – verwirklichte er durch Schaffung von Zweigstellen mit einheitlicher Satzung und unter Aufsicht der Direktion in Lemberg. 1925 gab es 11 solche Filialen in ganz Ost-G. Der erste Direktor war Anatol Wachnianyn (1903 bis zu seinem Tod 1908), dann Olena Jasenycka und St. Ludkewytsch, der auch als Inspektor (1913–39) die Aktivitäten des Vereins prägte. Als Lehrer waren die wesentlichsten Musiker und Komponisten beschäftigt: Olena Jasenycka, Hala Lewycka (1900–56), Natalija Kmicykewytsch, der polnische Komponist J. Gall, Darija Schuchewytsch, Marija Krynycka, Otto Teitsch u. a. 1940 wurde die HSch. mit den polnischen Konservatorien vereint und in Lyssenko-Staatskonservatorium umbenannt (seit 2000: Lyssenko-MAkad.). Einige der hier Anfang der 1920er Jahre ausgebildeten Interpreten erlangen Weltgeltung, so die Opernsänger Solomija Kruschelnytzka, Olexander Myschuha, M. Menzynskyj, Mychajlo Holynskyj, die Pianisten Sofija Dnistrianska (1882–1956), Darija Hordynska Karanowytsch (1908–99), Lubka Kolessa (1904–98) oder die Geiger Eugen Perfetzkyj (1880–1936) und Bohdan Bereznyckyj.

Einzelne professionelle Musiker erhielten zu dieser Zeit ihre Ausbildung auch an der MHsch. in Wien (St. Ludkewytsch, N. Nyzankiwskyj, Ph. Kolessa, J. Koffler, Sofija Dnistrianska [1882–1956], Hala Lewycka), in Prag (Wassyl Barwinskyj, M. Kolessa, N. Nyzankiwskyj, Stephanija Turkiewytsch-Lissowska [1898–1977], Roman Simowytsch), Berlin (Antin Rudnyckyj [1902–75], A. Soltys) oder Paris (M. Soltys, M. Mencynskyj) und arbeiteten nach ihrer Rückkehr gemeinsam mit den Musikliebhabern am Ausbau des galizischen Musiklebens. Die endgültige Trennung des professionellen Musikbetriebs von der Musikausübung durch Amateure erfolgte erst 1934, nach der Gründung eines entsprechenden Verbandes ukrainischer Berufsmusiker (Sojuz Ukrajinskych Provesijnych Muzyk/SUPROM). Es gab nun rein musikalische Konzerte, professionelle Veranstaltungen von Kunstmusik, die sich an internationalen Vorbildern orientierte: So stehen die Musik von A. Soltys (Sinfonien, 1927 und 1947, Sinfonische Dichtung Slowianie [Slaven], Huralska Suita [Huralen-Suite]) sowie die Anschauungen und Werke von St. Ludkewytsch (Kawkas, die dramatische Kantate auf den Text des Gedichts von Taras Schewtschenko für Chor und Orchester: Kameniari, Zapowit [Vermächtnis]) unter dem Einfluss Rich. Wagners. Vertreter der musikalischen Moderne sind zunächst Barwinskyj und Nyshankiwskyj, in den 1930er gehören dazu Antin Rudnyckyj, Stephanija Turkewytsch, Zenobyj Lysko (1895–1972) und besonders M. Kolessa, der Neoklassizismus und Folkloreelemente verbindet (Klavierquintett, Passakalie, Skerzo und Fuga, Klaviersuite Dribnyczky [Kleinigkeiten], Lemkiwske wesilla [Lemkische Hochzeit] für Chor und Orchester). Polnische Komponisten wie der erste galizische Expressionist J. Koffler (Musique de ballet 1926) und Tadeusz Majerski (Klavierquartett) übernahmen die Zwölftontechnik und bildeten Ende der 1920er Jahre die Lemberger Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik [Sekcija miendzynarodowego towarzystwa muzyki wspolczesnej]. Auch geistliche Werke werden komponiert – Barwinskyj (Bearbeitungen von Weihnachtsliedern), Denys Sitschynskyj (Liturgie), Ludkewytsch (Moses Monologe) – und zuvor unübliche Gattungen wie Oper, symphonische Zyklen, einteilige Orchesterwerke und Instrumentalzyklen für Kammerorchester sind vertreten.

In der Zwischenkriegszeit zeichnete sich das Musikleben durch eine Infrastruktur aus, in der die Laienvereine die Voraussetzungen zur Entstehung professioneller Bildungs- und Konzertanstalten vorbereitet hatten. Für die polnischen und ukrainischen professionellen Komponistenschulen wurde die Beziehung zum multikulturellen Milieu und die Lage der Region „am Schnittpunkt Europas“ von Bedeutung. Der Krieg unterbrach diese vielversprechenden Bemühungen und infolge der sowjetischen Besetzung (1939–90) wurde die Gesellschaft gespalten. Die Vereine unterbrachen ihre Tätigkeit, viele Musiker emigrierten und auch der Kontakt zur internationalen Kultur ging verloren. Deshalb konnten die experimentellen Bestrebungen der 1930er Jahre nicht fortgesetzt werden. St. Ludkewytsch, Wassyl Barwinskyj und M. Kolessa, die dieser Haltung entstammten, blieben die bedeutendsten Komponisten auch der 1940er und 1950er Jahre.

In dieser Zeit entwickelte sich die Kultur G.s gemeinsam mit der Ostukraine, mit der immer ein nationales Gemeinschaftsgefühl geherrscht hatte. Zentralismus war vorherrschend, Regionaltraditionen, v. a. die Karpatenfolklore als markantestes Merkmal der Volkskunst in dieser Region, wurden als strukturelles Element beibehalten, sowohl im auffallenden Liederstil von Anatolij Kos-Anatolskyj (1909–83) und Jewhen Kosak (1907–88) als auch in den ethnisch-deskriptiven Symphonien von Roman Simowytsch (1901–84) und in den scharf dissonanten und konstruktiven Kompositionen von Jurij Lanjuk (* 1958), der Jazz-Synthese bei Myroslaw Skoryk (* 1939), dem Neoklassizismus Wiktor Kaminskyjs (* 1953) und den postmodernen Verfahren bei Olexander Kosarenko (* 1962). Das Schaffen der Zeitgenossen nach dem Zerfall der UdSSR dokumentiert die offene Wiederaufnahme des ganzen Bereichs der modernen künstlerischen Anschauungen.


Literatur
MGG 5 (1996, Lemberg) u. 9 (1998, Ukraine); NGroveD 15 (2001, L’viv) u. 26 (2001, Ukraine); L. Blaszyk in Östliche Rundschau 1/4 (1991); D. Kolbin in Lemberg / Lviv 1972–1918, 1992; J. Kolodij, Ostap Nyzankiwskyj 1992; L. Kyjanovska in Art-Lain 4 (1998); Z. Lysko, Pionery muzytschnoho mystectwa w Halytschyni [Die Pioniere der Musikkunst in G.] 1934; L. Feigl, Sto let ceskeho zivota ve Lvove. Dil Druhy od roku 1867–1895, 1925; L. Mazepa in Muzyka 34 (1989); Miasto Lwow w okresie samorzondu 1870–1895 [Die Stadt Lemberg zur Zeit der Selbstverwaltung] 1896; S. Pawlyschyn in Mitt. d. ÖGMw 27 (1994); St. Ludkewytsch, Forschungen. Artikel. Rezensionen 1973; Sojuz profesijnych muzyk u Lvovi [Verband der professionellen Musiker in Lviv], Materialen und Dokumente 1997; I. Sonevytskyj, Haereditas in arte musicae Nestoris Nyzankiwskyj 1973; G. Michalski et al. (Hg.), Geschichte der polnischen Musik 1988; W. Tokartschuk in Muzyka 2 (1996); Zss. Ukrainische Musik 1937–39; Echo musyczny, teatralny i artystyczne [Musik-, Theater- und Kunstecho] 1892; Ilustrowanyj Muzycznyj Kalendar [Illustrierte Musikkalender] 1906; Przegland musyczny, teatralny i artystyczne [Musik-, Theater- und Kunstrundschau] 1905; Muzytschnyj wisnyk [Musikalische Nachrichten] 1931; Gazeta musytschna [Musikalische Zeitung] 1920; Monatschrift Echo 7 (1928); Archivquellen: ZDIA (Zentralnyj derzawnyj istorycznyj archiv [Zentrales Staatshistorisches Archiv der Ukraine in Lviv]: Fonds 146, 845, 309, 165, 514, 130, 348, 206); NBS (Lwiwska naukowa biblioteka imeni W. Stefanyka NAN Ukraine, wid'il rukopysiw [Lemberger Wissenschaftliche Stefanyk-Bibliothek der Nationalakademie der Wissenschaften der Ukraine in Lviv], Manuskriptenabteilung: Fond 9. P-c 28 [Archivsammlung von J. Reiss], Fond KOHC 163 n 50, Fond OH/009, 196, 797,33, 1312); Akten des k. k. Ministeriums f. Kultus und Unterricht im AVA in Wien (F 3225 jüngere Musikwissenschaft, Ausland).

Autor*innen
Peter Urbanitsch
Natalja Samotos
Cornelia Szabó-Knotik
Letzte inhaltliche Änderung
9.11.2022
Empfohlene Zitierweise
Peter Urbanitsch/Natalja Samotos/Cornelia Szabó-Knotik, Art. „Galizien‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 9.11.2022, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001ce83
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MEDIEN
Die Sängerin I. Abendroth in „ruthenischem Nationalcostüm“ (Wiener Bilder, 9.8.1896, 10 [„Künstler-Ferien“])© ANNO/ÖNB
Piotr Stachiewicz, Allegorie der Dumka. Illustration zu Franz Bylicki, „Musik und Volksmusik“, in: Die Österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild: Galizien, Wien 1898, 539–566, 539© ÖNB
© ÖNB

DOI
10.1553/0x0001ce83
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